~Ende 2013
Aufarbeitung einer Situation, die sich ein paar Monate zuvor ereignete.
Es war eine dieser endlos langen und langweiligen Fahrten Richtung Hannover;
S-Bahn, morgens, Pendlerverkehr, rappelvoll.
Ich saß gemütlich auf einem der Notfallplätze (da wo sonst Fahrräder stehen) und beobachtete die Welle an Menschen, die sich aus dem einen Bahnhof in den Zug ergoss.
Kampf um die letzten Plätze. Als würde keiner von denen im Sitzen arbeiten, oder als ob sie alle schwere Rückenprobleme hätten.
Mitten unter ihnen ein kleinerer etwas dicklicher Junge (ein frischgebackener Teenager, oder zumindest kurz davor), der sich direkt neben mir einfand.
Kurz darauf kam ein älterer Herr, der diesem sehr ähnlich sah und offensichtlich sein Vater war.
Er fing lauthals und ohne Vorwarnung damit an mit dem Kleinen zu schimpfen, warum dieser ihm keinen Platz freigehalten hätte.
Was ein Blödsinn! - ein kleiner Junge bei vllt. noch 10 Plätzen und 30 drängelnden Erwachsenen.
Meine eine Augenbraue machte sich auf den Weg Richtung Haaransatz und meine Zähne fingen an zu knirschen.
Ich erwog etwas zu sagen…
Dann langte der Vater dem eh schon im Boden versunkenen Sohn eine. Rechter Arm, flache Hand, klatschndes Geräusch. Abgeschwächt, aber mehr als nur angedeutet und den psychischen Schlag konnte man dem Jungen ansehen.
Mein eh schon alarmierter Geist schaltete auf Sturm.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen analysierte ich die Umgebung.
Viele Menschen hatten es "nicht mal wahrgenommen", andere machten sich plötzlich geschäftig daran nun auch desinteressiert zu wirken.
Ein paar wenige machten ein ganz mitleidiges Gesicht.
Mitleid.
Warum missbrauchen so viele Menschen es als Ausrede dafür nichts zu tun?
Nun -durch die gewollte Passivität der Anderen noch gereizter als eh schon- sprang ich auf; schnell den Gedanken beiseite schiebend den halbhohen Herrn am Kragen durchs Zugabteil zu schmeißen.
Meine Stimme war kalt wie Stahl und ebenso schneidend.
Laut und tief wie Donner.
Was ihm denn einfiele seinen Sohn zu behandeln?!
Wie er auf die Idee kommt, dass man bei diesem Gedränge einen Platz freihalten können.
Und, wenn ihm ein Sitzplatz so wichtig ist, dass er selbst dafür schlägt - dann soll er doch bitte meinen nehmen.
Über ihm aufragend, fast doppelt so groß wie er, deutete ich auf meinen freien Sitzplatz.
Er entschied sich dagegen für das Leben als Statue und wagte keine Regung. Den Blick stumm aus dem Fenster gerichtet.
Ich beließ die Szenerie so, und blieb ebenfalls stehen.
Sie entspannte sich.
Die Desinteressierten wurden desinteressierter. Die Mitleidigen wirkten erleichtert, dass sie jetzt ein weniger schlechtes Gewissen haben müssen.
Und kurz bevor sich die nächste Welle ergoss, machte ich es mir wieder auf meinem Sitz bequem.
Der Mann regte sich wieder, aber nur ganz leicht. Und er vermied tunlichst den Augenkontakt zu mir oder dem Kleinen.
An meinem Ziel angekommen, die beiden waren längst ausgestiegen, ließ ich wieder die Wellen an der Tür branden, bevor ich schließlich auch aufstand.
Eine ältere Dame wartete auf mich, eine der Mitleidigen.
Sie bedankte sich herzlich und betonte wie froh sie ist, dass jemand den Mut gefunden hat etwas zu sagen. Ich schluckte meine Worte hinunter, bitter wie Galle.
Ich nickte und zwang mir ein höfliches Lächeln auf.
Ein Mann der grad ausgestiegen war beobachtete das Ganze, warte bis ich ausstieg, und wiederholte die Prozedur.
Zum zweiten Mal nickte ich höflich und machte mich auf Richtung Ausgang; Dabei jeweils links und rechts von den beiden begleitet.
Ein stummer Geleitschutz.
War es Dankbarkeit, Bewunderung, oder wollten sie sich in meiner Anwesenheit sonnen wie in der Nähe eines Heiligen?
Vermutlich von allem ein bisschen.
In den Wellen am Ausgang verloren sich unsere Wege...